Nachlese zur Bundestags- und Juniorwahl 2021: “mehr Zeit für Geschichte und Sozialkunde”

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Fünf Fragen an Politikprofessor Brodocz (Universität Erfurt)

Die Historiker*innen für ein weltoffenes Thüringen (HiWelt) stellen mit dem folgenden Interview ein neues Format auf dem Blog vor. In Zukunft sollen “Fünf Fragen an” unterschiedlichste Personen gestellt werden, um historisch relevante Themen wie tagespolitisches Geschehen zu kommentieren und einzuordnen. “Fünf Fragen an…” ist dementsprechend thematisch nicht festgelegt. Zu unserem Auftakt möchte HiWelt die Bundestags- und Juniorwahlen vom September diesen Jahres Revue passieren lassen. Wir freuen uns, dass uns Herr Brodocz, Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt, geantwortet hat. Wir wünschen viel Freude mit diesem Interview sowie mit dem Format in der Zukunft!

Juniorwahl 2021

HiWelt: Kurz vor der Bundestagswahl 2021 fanden bundesweit die Juniorwahlen statt. Sie zeigen auf, wie der Bundestag aussähe, wenn ausschließlich Menschen unter 18 Jahren wählen würden. Welche Ergebnisse gab es bundesweit bei den Juniorwahlen? Wie bewerten Sie sie?

Brodocz: Bei den Juniorwahlen sind SPD, Grüne und FDP als stärkste Parteien mit jeweils ca. 20 % Stimmenanteilen hervorgegangen. Dies sind genau die Parteien, die sich derzeit um eine Regierungsbildung bemühen. Wenn es dazu kommt, dann wäre die Mehrheit der Jugendlichen auch durch die neue Bundesregierung repräsentiert. Da die derzeit drängenden politischen Entscheidungen sich weit in der Zeit auswirken, wie die Bekämpfung der Klima-Krise oder die Finanzierbarkeit eines existenzsichernden Rentensystems, ist es sehr zu begrüßen, dass sich die Jugend auch in ihrer Mehrheit von der künftigen Bundesregierung repräsentiert sieht.

FDP bekommt 19,7%

HiWelt: Schauen wir uns bei der Juniorwahlen ausschließlich die Stimmen aus Thüringen an, dann liegt die FDP vorn (19,7%); die SPD erhält 14,2% der Stimmen, die Grünen 13,5% und die AFD 12,3%. Wie erklären Sie sich, dass hier die FDP bei jungen Menschen den meisten Zuspruch erfährt?

Brodocz: Durch Form und Inhalt ihrer politischen Arbeit. Die FDP thematisiert schon lange, dass Chancengleichheit und soziale Aufstiegsmöglichkeiten eng mit guter Bildung zusammenhängen. Insofern ist sie mit dieser Programmatik inhaltlich auf dem Schirm junger Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen. Zudem ist die Form ihres Wahlkampfs im Design und in der Ansprache stark auf die Social Media sozialisierten Ansprüche junger Menschen ausgerichtet – und zwar erfolgreich, zumindest bei einem Fünftel der Jugendlichen.

Geschichtsnarrative

HiWelt: Inwiefern prägen Geschichtsnarrative im Elternhaus, in der Schule oder in den Medien die Wahlentscheidung der Unter 18-Jährigen?

Brodocz: Geschichtsnarrative spielen in der Ausbildung politischer Meinungen eine wichtige Rolle. Für junge Menschen gilt dies auch für die unmittelbare Zeitgeschichte, da ihnen eigene Erfahrungen altersbedingt fehlen. Hier kommen dann vor allem Eltern und Medien ins Spiel. Den Eltern kommt in der politischen Sozialisation Jugendlicher generell eine große Rolle zu. Denn mit ihren Eltern diskutieren Jugendliche ihre politischen Fragen häufiger aus als mit ihrem Freundeskreis. Medien sind der zweite wichtige Faktor. Interessant ist, dass sich Jugendliche zumeist über Social Media politisch informieren, diesen Medien aber weniger vertrauen als den klassischen. Der Schule kommt nach meiner Beobachtung – leider – keine mit den Eltern oder Medien vergleichbar prägende Rolle zu, schon weil die Lehrpläne viel zu wenig Stunden für Geschichte und Sozialkunde vorsehen.

„Geschichte“ ist immer auch die Gegenwart von Menschen gewesen, die diese erfahren und erlitten haben"

Politisch-demokratische Bildung?

HiWelt: Lehrer*innen in Thüringen beklagen, dass für Schüler*innen im Curriculum zu wenig Zeit für Politikunterricht vorgesehen ist. Können Sie uns (zwei oder drei) Vorschläge nennen, wie sich die politisch-demokratische und die historische Bildung von Jung und Alt in Thüringen fördern lässt?

Brodocz: Ich sehe das wie die Lehrer*innen. Wir brauchen vor allem mehr Zeit für Geschichte und Sozialkunde in den Lehrplänen. Nur hier werden alle Jugendlichen erreicht, auch diejenigen, deren politisches Interesse vielleicht erst geweckt werden muss, weil Politik zu Hause kein Thema ist. Didaktisch sehe ich in der Begegnung mit Zeitzeugen ein Instrument, weil diese mit der Authentizität des Betroffenen – insbesondere wenn wir an Opfer politischer Verfolgung oder gesellschaftlicher Diskriminierung denken – darauf hinweisen, dass „Geschichte“ immer auch die Gegenwart von Menschen gewesen ist, die diese erfahren und erlitten haben. Spannend sind zudem Projekte wie der Instagram-Account „ichbinsophiescholl“, mit dem Geschichte mit den heutigen Medien nachträglich noch einmal miterlebt werden kann, als ob es „live“ wäre.

Björn Höcke als nächster Ministerpräsident?

HiWelt: Wir möchten Sie nach Ihrem Ausblick fragen: Der Zeitpunkt der nächsten Landtagswahlen in Thüringen ist zwar derzeit noch ungewiss, aber angesichts des großen Zuspruchs der AfD bei den letzten Landtagswahlen 2019 fragen sich viele: Wie wahrscheinlich ist Björn Höcke als Thüringens nächster Ministerpräsident?

Brodocz: Das ist sehr unwahrscheinlich. Die AfD erreicht in Thüringen ca. 20% der Stimmen. Als die CDU bei der Bundestagswahl noch einmal mehr als zehn Prozentpunkte verloren hat, konnte die AfD davon nicht profitieren. Im Moment sieht es so aus, als ob die AfD ihr Wahlpotential weitgehend ausgeschöpft hat. Zum Regieren braucht es ab aber mindestens 50% der Stimmen. Dafür braucht die AfD einen Koalitionspartner. Ich sehe keine Partei in Thüringen, die mit der AfD Björn Höcke zum Ministerpräsidenten wählen würde.